Zürich, 28.03.2016
Lieber Friedrich,
wir werden nie die Grenze ziehen können zwischen geisteskrank und normal.
Wir können nur sagen, ein Mensch kann sich sozial anpassen, und je besser er sich sozial anpassen kann, je mehr er versucht, den Nebenmenschen zu verstehen, ihm zu helfen, desto normaler ist er. Stell dir vor, ich war damals siebzehn Jahre alt, da kam ich mit deiner Wahrheit in Berührung.
Ich hielt es in der Hand, dein Buch, leicht angewidert, überlegte, es zu umgehen. Der weisse Einband, die schwarze drückende Schrift, 311 Seiten prophezeite Langeweile.
Ich hasse Krimis. Ein Herr mit Hut und Mantel. Ein Mord. Eine Reihe akribisch geplanter Zufälle gemischt mit künstlich erzeugter Spannung.
Friedrich, aus welchem Grund auch immer, ich hatte begonnen.
Seite 9, deine Vorrede; und dann gings vorwärts. Rasch und ohne Unterbruch.
Wie ein Skalpell durchschneidet dein Blick die Schichten der Gesellschaft.
Du bist ein begnadeter Beobachter. Du bist ein fabelhafter Schreiber und du bist ein grosser Suchender.
Ich erkenne mich wieder in deinen Fluchtversuchen, in deiner Sehnsucht nach Freiheit. Dein Werk öffnet Augen. Und es ist ein einmaliges Zeitdokument Schweizer Geschichte.
Du lieferst uns einen unverblümten Einblick.
Der Geist des Irrsinns. Die Welt ist sein Puppentheater.
Und die Briefe, deine sorgfältig verfassten Gemütszustände. Deine Art zu kommunizieren.
Wie fleissig du versendet hast – deshalb auch ein Brief zurück an dich.
Es hat sich viel verändert. Briefe sind rar geworden. Du würdest staunen.
Deine Irrenanstalten wurden zu modernen Einrichtungen mit hübschen Zimmern. Der ständige Pegel von Schreien, der damals zum Alltag gehörte, verschwunden. Die Insassen fressen nun Pillen, jeder Nervenzellenverband wird kontrolliert. Und manipuliert.
Der Krimi geht weiter. Ein Milliardengeschäft. Psychologen, Universitäten, Pharmaindustrie zusammen mit Medikamenten, Kindern und Verführung.
Aber etwas verspreche ich dir, Friedrich, wir werden nie die Grenze ziehen können zwischen geisteskrank und normal. Niemals.
Und auch, dass wir von denen, die ein gerades Leben führen, verachtet werden – auch das ist unverändert.
Wir alle sind im Unterbewusstsein Mörder, Diebe und Ehebrecher. Was, wenn wir die Schranken überschreiten? Auch noch aktuell.
Lieber Friedrich, danke für deine Wahrheit. Du hast mein Leben verdunkelt.
In Liebe,
L.
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