Zürich, 30.03.2016
Lieber Friedrich,
ich habe dich heute besucht. Du warst überrascht, nicht wahr?
Die Inschrift auf deinem Denkmal ist ziemlich verblasst, da muss man schon genau hinschauen. Das Grün auf dir wuchert wild. Nur eine weisse, verblühte Rose lag etwas versteckt zwischen all dem Gestrüpp.
Eigentlich hatte ich mehr erwartet. Du gehst unter – man muss eben,wie gesagt, genau hinsehen – so, wie du damals.
Ich frage mich, ob du oft Besuch bekommst.
Meine Stille musst du entschuldigen, es ist seltsam für mich. Friedhöfe sind bedrohlich und einsam.
Am Morgen betrat ich die Ausstellung. Beim Eingang als erstes deine Stimme, ab Tonband. Da musste ich schnell weiter. Im Erdgeschoss Dunkelheit, überall Zitate von dir an den Wänden aufgemalt. Viel schwarz. Und ein riesiges, endlos scheinendes Netz. Fenstergitter in der Anstalt. Dann vereinzelt Monitore, wichtige Leute die deine Worte kommentieren.
Der Lebenslauf ordentlich dargestellt. Noch immer schwarz.
Kommen Sie, Studer, wir wollen nicht anwachsen. Eins will ich Ihnen sagen, bevor wir eintreten durch dieses Tor: Sie kommen zum Unbewussten zu Besuch, zum nackten Unbewussten, oder wie es mein Freund Schül poetischer ausdrückt: Sie werden eingeführt ins dunkle Reich, in welchem Matto regiert.
Treppe hoch, neue Räume, mehr Licht.
Ich wäre fast angewachsen. Viele Eindrücke, Gedanken entstehen und verblassen. Alles fühlt sich düster an. Selbstmorde. Die tote Mutter. Der verzweifelte Vater.
Ich flüchte in das hellste Zimmer und setze mich. Gemütlich. Deine Bücher auf den Fenstersimsen drapiert. Der Kaffee fehlt.
Beachtlich, Friedrich, beachtlich. Eine kleine Bibliothek hast du erschaffen.
Was bedeutet das eigentlich? E N T M Ü N D I G U N G.
Das Vormundschaftsrecht, seit 1912. Für Erwachsene, von denen man dachte, dass sie wie Kinder auf Fürsorge und Unterstützung angewiesen seien. Insbesondere sollten jene geschützt werden, die unter Geistesschwäche oder an Geisteskrankheit litten.
E N T Z U G der Handlungsfähigkeit.
Mit 22 Jahren für immer bevormundet. Alles muss erfragt und ausgelegt werden.
Sehr geehrter Herr Doktor,
vor einiger Zeit hat Ihnen Fräulein Bendel geschrieben um Sie anzufragen, ob es möglich wäre, dass wir diesen Herbst heiraten könnten. Wenn Sie dies ermöglichen könnten, so wäre ich Ihnen dankbar mir dies so bald als möglich mitzuteilen.
Ich habe mich jetzt mehr als anderthalb Jahre in der Freiheit gehalten und ich denke, dass Sie meinem Projekt unbedenklich zustimmen können. Nur weigere ich mich, wie ich es Ihnen schon einmal sagte, noch einmal in eine Irrenanstalt zu gehen.